Die Theorie der Gefühlsunterdrückung

 

Jeder Organismus hat auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und gemäß seiner Anlagen und Vorerfahrungen eine bestimmte Schwelle der Reizverarbeitung. Wird diese Schwelle überschritten, ist also der Reiz zu intensiv oder kommen zu viele Reize zusammen oder fordern Reize zu widersprüchlichen Reaktionen heraus, kommt es zu traumatischen Erfahrungen, die den Organismus überfordern. Je früher sie in der Entwicklung auftreten, desto weniger Möglichkeiten hat der Organismus, eine derartige Reizüberflutung zu bewältigen. Die Eindrücke und ihre innere Resonanz können nicht verarbeitet werden. Sie bleiben also als „offene Gestalten“ bestehen und werden mit Angst verbunden.


Das Gehirn ( vor allem die Amygdala) bildet eine Datenbank mit allen Reizen, die mit angstvollen Situationen, die nicht verarbeitet werden konnten, assoziiert werden. Damit will sich der Organismus für eine zukünftige Bedrohung wappnen.


Um trotz dieser unbewältigten Erfahrungen weiterleben zu können, baut der Körper eine Schutzreaktion auf: Der Körperteil, in dem die traumatische Erfahrung besonders intensiv verspürt wird, wird angespannt, sodass die Energie nicht hindurch fließen kann. Die Erfahrung wird eingekapselt in einen Mantel von verspannten Körperzellen, Muskeln und Geweben.


Tritt nun später eine Erfahrung auf, die in irgendeinem Aspekt an die traumatische Situation erinnert, wird die Verspannung in dem entsprechenden Körperteil erneut aktiviert und verstärkt, um die Reizüberflutung nicht wiedererleben zu müssen. So entstehen verdichtete Körperzonen (Wilhelm Reich nannte diese Bereiche Körperpanzerungen), die zu Fehlfunktionen und Krankheiten des Körpers führen können, weil sie den freien Energiefluss behindern. Außerdem benötigen sie zu ihrer Aufrechterhaltung Energie, die dem freien Lebensausdruck abgeht.


Diese Panzerungen enthalten verfestigte Angstgefühle vor dem inneren Zusammenbruch als Folge der Reizüberflutung. Jede neue Schutzschicht, die gegen das Auftauchen der Gefühle darüber angelegt wird, wird wieder mit Angst besetzt, sodass Angsthierarchien, Ängste vor der Angst entstehen.


Im Atemprozess wird eine Revision dieses Prozesses angestrebt. Die intensivierte Atmung lässt verstärkt Energie zu den verspannten Körperzonen strömen. Dort wird der Widerstand gegen den Energiefluss besonders deutlich spürbar, und es kann zu Schmerzen kommen, die umso stärker werden können, je mehr Energie zugeführt wird. Zwei Tendenzen stehen im Widerstreit: Zum einen die lebendige Energie des Atemflusses, der nach einer Steigerung der Lebenskraft strebt, und zum anderen die Angst vor den eingeschlossenen Gefühlsenergien und dem damit verbundenen Wiedererleben der traumatischen Situation.

In einer integrativen Atemsitzung wird für ein Höchstmaß an Sicherheit gesorgt und dann die Energie durch die Intensivierung der Atmung so weit aufbaut, dass Schicht um Schicht die Verspannung gespürt und abgebaut werden kann, sodass der empfindsame Kern der gespeicherten Gefühle freigelegt werden kann. Werden diese Gefühle in ihrem ganzen Gehalt gespürt und durchlebt, kann sich der Körper tiefgehend entspannen und im Wiederfinden und Lösen uralter Gefühlsenergien und Gefühlskomplexe neue Quellen der Lebendigkeit erschließen.

Literatur: Wilfried Ehrmann: Handbuch der Atemtherapie. Ahlstedt: Param 2004