Sieben Stufen der Beziehung

In Beziehung wachsen

Wilfried Ehrmann

 

Das Modell der Stufen der Bewusstseinsentwicklung nach Graves, Beck und Cowan bietet nicht nur eine Wegkarte der gesamten Menschheitsgeschichte, sondern kann auch auf zwischenmenschliche Beziehungen angewendet werden. Denn unsere Vorfahren und deren Vorfahren haben in uns ihre Spuren hinterlassen – ihre Werte und Einstellungen, Ängste und Hoffnungen. Wenn sich zwei Menschen begegnen und eine Beziehung eingehen, bringen sie diese Vorstellungen und Gefühle in die Beziehung mit ein, ohne davon allzu viel zu wissen. Wenn sich nun die Beziehung entfaltet, treten aus dem Verborgenen der Geschichte Motive hervor, die sich von denen des Partners unterscheiden können, und dann treten bald Konflikte auf, die schwer zu befrieden sind, weil ihr eigentlicher Ursprung unbekannt ist.
Die sieben Stufen der Bewusstseinsevolution, wie ich sie in meinem neuen Buch darstelle, sind zugleich Stufen der inneren Heilung und sie helfen, Missverständnissen in der Kommunikation auf die Spur zu kommen und in Verständnis überzuführen. Damit können sich die Partner einer Beziehung tiefer füreinander öffnen.

1. Das tribale Bewusstsein

Die Menschen der Frühzeit haben in Stämmen gelebt. Die Beziehungen waren von der Selbstverständlichkeit der Positionen bestimmt: Es war klar, was ein Mann zu tun hat und was die Frau, was die Alten und die Kinder. Jeder hatte seinen festen und klar umrissenen Platz im Sozialgefüge. Änderungen, wie sie z.B. durch Geburten, Heiraten und Todesfälle vorkamen, wurden durch Rituale in geregelten Bahnen abgewickelt.
Darin ist der Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit grundgelegt, den wir in jede Beziehung mitnehmen. Wir sprechen von Untreue oder Betrug, wenn ein Partner sich eine andere für ein Abenteuer sucht. Diese schweren moralischen Verurteilungen, die in manchen Gesellschaften auch mit schweren Strafen belegt waren (häufig schwerer für die Frauen als für die Männer) erklären sich aus der Verletzung dieser Grundsicherheiten. Wenn Beziehungen in die Brüche gehen, hat das oft schwere seelische bis gesundheitliche Krisen zur Folge. Der Grund kann darin liegen, dass eine soziale Sicherheit, die wir als tiefes Bedürfnis in uns tragen, weggefallen ist, und massive Ängste und tiefe emotionale Schmerzen all unsere Überlebensressourcen mobilisieren wollen.
Wenn wir uns verlieben, erwächst in uns das Gefühl der Zugehörigkeit und des Vertrauens, oft ganz schnell. Wir fühlen uns frei von Ängsten und Sorgen, die Welt erscheint uns in Rosarot. Wir rufen mit diesen Gefühlen wichtige Elemente des tribalen Bewusstseins in uns wach: Angenommen, verstanden und erkannt sein.

2. Das emanzipatorische Bewusstsein

Was des tribalen Bewusstsein sein Leid, ist des emanzipatorischen Freud. Es repräsentiert die Energie, die aus geordneten Bahnen ausbrechen will. Jede Selbstverständlichkeit wird einmal langweilig, und der Drang wächst, etwas Neues auszuprobieren. Es muss Veränderungen geben, sonst gibt es keine Weiterentwicklung.
Nach Millionen Jahren der Lebensweise in kleinen, wandernden Gruppen und Stämmen vollzog sich für die Menschheit mit dem Ende der letzten Eiszeit eine grundlegende Änderung der Wirtschafts- und Sozialform. Die Menschen erfanden die Landwirtschaft und die Sesshaftigkeit. Sie entwickelten neue Überlebensstrategien und waren bereit, alte Traditionen über Bord zu werfen und neue Risiken einzugehen.
In unseren Beziehungen erleben wir die Energien dieser Bewusstseinsstufe oft recht dramatisch.     Nach der Phase der Verliebtheit erleben wir häufig eine Ernüchterung, der andere, in den wir uns verliebt haben, ist auch nur ein normaler Mensch, mit Ecken und Kanten, mit Eigenschaften, die uns gar nicht passen. Wir fangen an, am anderen herumzukritisieren und ihn herauszufordern. Wir wollen, dass er sich ändert, damit wir uns selber anders fühlen können. Es spielt die Angst, abhängig zu werden, sich selbst zu verlieren, eine wichtige Rolle. So wird statt der Verschmelzung die Abgrenzung zentral, und es kommt zu Auseinandersetzungen und Konflikten, in denen das in der Verliebtheit entstandene Sicherheitsgefühl ebenso wie die Vereinigungsphantasien schwinden. Statt dessen stärkt sich das Selbstgefühl mit den entsprechenden Emotionen.

3. Das hierarchische Bewusstsein

Um die Schrankenlosigkeit und Willkür, wie sie sich nach der Auflösung tribaler Bindungen ergeben hatte, einzudämmen, wurden Ordnungs- und Regelsysteme entwickelt, die die komplexer werdende Gesellschaft in stabile Bahnen führen sollten. Hochkulturen haben Verwaltungsapparate aufgebaut, die das komplexe Zusammenleben in überschaubare Bahnen lenkten und von den Untertanen Gehorsam und Unterordnung verlangten.
Wenn Beziehungen durch die Zeiten der Auseinandersetzung und der Selbststärkung gegangen sind, entsteht häufig das Bedürfnis nach Verbindlichkeit. Was ein Paar an Konflikten durchgemacht hat, kräftigt auch die Beziehung und erlaubt das Eingehen einer Bindung mit einer Form der Institutionalisierung. Das ist in unserer Epoche nicht immer die Heirat, manchmal auch nicht das Zusammenziehen in eine Wohnung, kann also die unterschiedlichsten Formen annehmen. In jedem Fall handelt es sich um ein Öffentlich-Werden der Beziehung und damit um eine Einflechtung in weitere Netze der Gesellschaft – die Freundschaftsnetze, das Familienumfeld, die Wohnumgebung usw.
Wenn das Zusammenleben einen festeren äußeren Rahmen gefunden hat, gilt es, diesen bewohnbar zu machen. Da solche Räume immer auch Grenzen haben, kann es zur Auseinandersetzung um die Territorien kommen, und die Macht wird Beziehungsthema. Wer darf was bestimmen, und was geschieht, wenn beide konträre Vorstellungen zur gleichen Sache haben, wer setzt sich durch, wer gibt nach? Es wird um Über- und Unterordnung gerungen, so, als wäre der Beziehungsraum eine Kaserne. Zugleich dienen diese Konflikte dazu, sowohl beide Beziehungspartner in ihrer inneren Kraft zu stärken und auch der Beziehung neue Energien zuzuführen.

4. Das materialistische Bewusstsein

In der nächsten Stufe kommt es zur Konzentration auf die Verwirklichung „in der Welt“. Leistung, Konkurrenz und Naturbeherrschung, einschließlich der eigenen Körperlichkeit stehen im Zentrum einer Geisteshaltung, die bis heute stark wirksam ist. Dinge werden wichtiger als Menschen, das Erfolgsstreben ersetzt das Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Für Beziehungen bedeutet die Energie dieser Stufe, mit den Herausforderungen des täglichen Lebens und des Broterwerbs in einer modernen Gesellschaft umgehen zu können. Wie wirkt sich die Übertragung von Leistungsgedanken und des Konkurrenzdenkens auf die Beziehung aus? Wie dringen die Bilder der Konsumwelt und der Medienidole in sie ein? Welche Materie hat die Beziehung und wie wird damit umgegangen? Und schließlich: Wieviel und was an Körperlichkeit geht verloren, wenn die Prinzipien des materiellen Denkens überhand nehmen?

5. Das personalistische Bewusstsein

Hier verlässt das Individuum eine Welt der Anonymität voll von Zahlennormen und Gewinnmaximen und fordert die Priorität der Qualität vor der Quantität. Es werden unveräußerliche Rechte formuliert, die jedem Menschen zukommen, und Ideale der Humanität werden proklamiert. Die Menschen gehen auf die Suche nach ihrem Selbst und seinen speziellen Ausdrucksformen. Das hat die Entfaltung der kreativen und künstlerischen Bereiche zur Folge. Die Welt der Gefühle wird subjektiv wie objektiv erforscht, die Psychotherapie wird ebenso erfunden wie Formen und Methoden der Selbsthilfe.
Wenn sich Beziehungen auf diese Ebene der Kulturevolution einlassen, öffnet sich das Spannungsfeld von Selbstentfaltung und vertieftem Erleben. Die Welt der verfeinerten Gefühle ermöglicht einen intensiveren Austausch und ein umfassenderes Kennenlernen der Menschen, aber auch eine Vermehrung der Möglichkeiten des Missverstehens und des Nichtverstandenwerdens. Die Ansprüche an Beziehungen steigen ins Unmessbare, d.h. sie verlagern sich in die unendlichen und unerschöpflichen Welten des Inneren. Damit werden neue Dimensionen des Geheimnisses Beziehung ausgelotet und erschlossen. Die Kommunikationsformen werden verbessert und zum Gegenstand permanenten Lernens.
Zugleich werden aber Beziehungen auch so fragil und krisengeschüttelt wie nie zuvor. Parallel dazu, dass die Liebesbeziehungen als Folge der materialistischen Errungenschaften weitgehend von ökonomischen Bezügen freigespielt sind, lastet das ganze Gewicht der Beziehungsarbeit auf zwei Menschen, die es schaffen können oder nicht, miteinander auszukommen und weiterzugehen. Es gibt kaum mehr zwingende äußere Gründe, um eine Beziehung trotz schwieriger Innenbedingungen aufrecht zu erhalten.

6. Das systemische Bewusstsein

Nach den Katastrophen von zwei Weltkriegen sowie nach dem aufdämmernden Wissen über die Grenzen des Wachstums war klar, dass die herkömmliche Form der Vernunft mit ihrer Betonung der Individualität nicht zureichen kann, um die Menschheit mitsamt ihren wissenschaftlichen und technologischen Meisterleistungen auf sicheren Bahnen in die Zukunft zu führen. Neue Ansätze zeigen sich im systemischen Denken, das versucht, alle Einzelstandpunkte mit einem übergeordneten Blick zu verbinden und so die Engen und Selbstbezogenheiten des personalistischen Denkens und Empfindens zu überwinden.
Das systemische Bewusstsein ist eine Herausforderung für den menschlichen Geist, der gewohnt ist, die Wirklichkeit als Summe von Objekten mit festen Eigenschaften wahrzunehmen. Alles Wahrnehmen als abhängig von Kontexten zu erkennen und jede Objektivität nur als ein Konstrukt des menschlichen Geistes zu betrachten, bedarf einiger Übung. Die Vorzüge dieser Denkweise liegen darin, dass es leichter wird, in die „Mokassins des Feindes“ zu schlüpfen. Den Gegner nehmen wir üblicherweise als fremdes Gegenüber wahr, das uns bedroht. In der systemischen Sicht sind wir mit dem Gegenüber in einem System von Bedrohung voneinander abhängig. Er ist nur deshalb feindlich, weil ich so zu ihm bin, wie ich es bin.
Diese Erfahrungsweise bringt neue Chancen für die Klärung von Beziehungskonflikten. Die beliebten Themen „Wer ist schuld? Wer hat recht?“ gelten nicht mehr. Es gibt ja in einem System keine absoluten Standpunkte und keine festen Rangordnungen. Darum verlieren Auseinandersetzungen darüber vieles von ihrem Reiz. Es fällt auch leichter sich zu entschuldigen, weil das, was man sich zuschulden kommen ließ, nichts mit der eigenen Person zu tun hat, sondern nur ein Verhalten war, das bei der anderen Person schlecht angekommen ist, aber in sich nichts Falsches oder Richtiges hat. Damit werden die Wurzeln von Konflikten als Missverständnisse schnell einsichtig.

7. Das holistische Bewusstsein

Mit dieser Stufe ist ein Bewusstseinszustand bezeichnet, der sich weitgehend von Ängsten und anderen negativen Gefühlen befreit hat und den inneren Frieden und eine klare ethische Ausrichtung gefunden hat. Das systemische Bewusstsein ist in sich ohne ethisches Zentrum und deshalb manipulierbar. Ihm ist alles im jeweiligen Kontext sinnvoll, aber nicht darüber hinause. Um Fortschritte in der Krisenbewältigung dieser Welt zu machen, bedarf ist nicht nur dieser neuen Denkweise, sondern auch Menschen, die sich in ihr in integrer Weise bewegen. Systemisches Denken und Handeln kann erlernt und eingeübt werden, das holistische Bewusstsein wird nur durch Innenarbeit erworben. Alle Handlungen, die nur dem eigenen Vorteil dienen, sind von Ängsten gesteuert. Wenn diese Ängste schwinden, entsteht von selber eine transparente innere Haltung, die sich in einem Verhalten ausdrückt, das das Wohl der anderen immer genauso im Blick hat wie das eigene Wohl.
Mit Hilfe dieser Bewusstseinsstufe können wir erkennen, was jeder Mensch ist, und damit und vor allem auch, was unsere Beziehungspartner im Tiefsten ihres Wesens sind: in Liebe geborene und in Liebe sich entwickelnde Menschen. Hinter all den Gefühlen und Handlungen, die uns an ihnen irritieren und verstören, liegt dieser unverletzte, strahlende und kostbare Kern, auf den wir vertrauen können, wenn wir mit den Mitteln der verbalen Kommunikation nicht mehr weiter wissen. Dieser Kern liegt ja auch in uns selber und hilft uns immer wieder, zurückzufinden zu den Kräften, die in uns selber schlummern, einen Schritt aus der Befangenheit in Projektionen und Schuldzuweisungen zu machen und uns für das Fließen der Liebe zu öffnen.
So hilft jeder Schritt des Erkennens und Transformierens der eigenen Schattenbereiche zur Annäherung an das, was wir in Wirklichkeit sind. Ebenso hilft die Auflösung von Missverständnissen und Projektionen in Beziehungen bei der Annäherung an das, was menschliche Beziehungen in Wirklichkeit sind: Gegenseitige Bereicherungen und Beschenkungen.

Bewusst den Weg durch die Stufen des Bewusstseins zu gehen, ist eine herausfordernde und lohnende Erfahrung. Um mit diesem Modell die Beziehungsdynamik zu erforschen, gibt es zwei Selbsterfahrungs-Sommergruppen:
auf der schönen Insel Korfu in Griechenland 30. Juni bis 6. Juli 2013 im Zentrum Alexis Zorbas und
in der bezaubernden Schweizer Berglandschaft vom 16. – 21. September im Hotel Klösterli,
geleitet von Wilfried und Madya Ehrmann. Hier zu den Informationen.

 

Mehr Material zum Thema der Bewusstseinsstufen gibt es in meinem Buch: „Vom Mut zu wachsen. Sieben Stufen der integralen Heilung“ (Kamphausen Verlag 2011) zu lesen. Laufend können Bezüge zu diesen Themen auch in meinen Blog-Einträgen unter http://wilfried-ehrmann.blogspot.com und http://wilfried-ehrmann2.blogspot.com nachgelesen werden.