Teilnehmer am Geburtsseminar berichten zunehmend häufiger über ihre Ahnung, am Lebensanfang nicht alleine gewesen zu sein. „Da war noch wer da“, so lautet oft ihre verwunderte Aussage.
Das deckt sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen: Etwa ein Prozent aller Geburten endet mit einer Zwillingsgeburt. Bei frühen Ultraschalluntersuchungen werden allerdings bis zu 30 Prozent Zwillingsschwangerschaften entdeckt. Wird die Zeitspanne vor der Möglichkeit mit Ultraschall zu untersuchen mit eingeschlossen, ist der Prozentsatz noch höher. Die Wahrscheinlichkeit einen Zwilling gehabt und verloren zu haben ist also ziemlich hoch. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Thema „Der verlorene Zwilling“ in den letzten 10 Jahren bei verschiedenen Therapeuten immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Das Therapeutenehepaar Alfred und Bettina Austermann begleitet seit 1998 Menschen mit Traumatisierungen durch einen verlorenen Zwilling. Sie konnten in zahlreichen Arbeiten und bei Aufstellungen sehen, dass der Verlust eines Zwillings bei vielen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern tiefgreifende Auswirkungen auf das Lebensglück und auf das Liebesglück hat. Seither gibt es zahlreiche Bücher zu diesem Thema, z.B.:
Alfred und Bettina Austermann: „Das Drama im Mutterleib“
Barbara Schlochow: „Gesucht – mein verlorenen Zwilling“
Evelyne Steinemann: „Der verlorene Zwilling“
Elke Brenner: „(Über)Lebender Zwilling“ Diese Autorin ist Kollegin und Mitglied der Berufsvereinigung des Vereins Atman
Nicht nur bei natürlich entstandenen Schwangerschaften nisten sich Zwillinge oder Mehrlinge ein, die vielfach nicht alle geboren werden. Bei künstlicher Befruchtung ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich mehr als eine befruchtete Eizelle in der Gebärmutter einnistet noch wesentlich größer. Allein in Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen Paare, deren Wunsch nach Kindern sich auf natürlichem Weg nicht erfüllt. Sie sind besonders häufig vom Problem des „Verlorenen Zwillings“, oder schlimmer noch, von einer „Mehrlingsreduktion“ betroffen. Wichtig für die betroffenen Eltern und deren Kindern ist es darüber Bescheid zu wissen, damit sie lernen mit den Auswirkungen ihres Zwillingsverlustes besser zu Recht zu kommen.
Beim überlebenden Zwilling führt dieser Verlust in den meisten Fällen zunächst zu einem Schock mit erheblichen psychischen und körperlichen Folgewirkungen. Häufig tritt beim Überlebenden das Gefühl auf am Tod des Zwillings schuldig zu sein. Weiter entstehen Gefühle von Hilflosigkeit, quälender Sehnsucht bis hin zu Todessehnsucht, Einsamkeit, Kraftlosigkeit und Depressionen. Angst und Ekel entstehen wenn Teile des Abgestorbenen lange neben dem Überlebenden in der Gebärmutter verbleiben. Oft kommt es vor, dass Teile des abgestorbenen Zwillings in den Lebenden einwachsen, was im späteren Leben zu gesundheitlichen Problemen bei diesem führen kann.
Erfüllende Liebesbeziehungen sind für den alleingeborenen Zwilling fast unmöglich. Die einen vermeiden Nähe, um den alten Trennungsschmerz nicht wieder erleben zu müssen, die anderen suchen immer mehr Nähe und Innigkeit, als ein Partner geben kann. Bis hin zu Ambivalenzen: „Ich möchte mit dir verschmelzen, komm mir aber nicht zu nahe.“
Manche finden in der Liebe zum Haustier einen Ersatz für den Zwilling, manche in der Liebe zum eigenen Kind, manche in Hobbys …
Alle Erfahrungen dieser frühen Lebensphase werden im Körper gespeichert, und werden später, sobald sich das Gehirn ausreichend entwickelt hat, als Glaubenssätze verinnerlicht. Sie bilden dann die Grundlage dafür, wie wir das Leben organisieren. Auf sie stützen wir uns bei Handlungen, sie bestimmen, was wir verwirklichen, sie prägen die Selbstwahrnehmung und die Weltsicht, sie bestimmen Zukunftserwartungen, entscheiden, was ins Bewusstsein tritt, bzw. was wir wahrnehmen.
Sie werden als Gegebenheit erlebt, als das Sosein des Lebens.
Viele überlebende Zwillinge sind hochsensible, spirituell und emotional hochintelligente Persönlichkeiten, mit dem Gefühl mangelnder Existenzberechtigung und einem besonders empfindsamen Gemüt.
Barbara Schlochow: „In den Überlebenden bleibt eine Erinnerungsspur an eine innige seelische Verbindung mit dem Zwilling, die im gegenseitigen Erspüren, im Austausch von Gedanken und Gefühlen besteht, Gefühle von Einssein, tiefer Verbundenheit, tiefer Liebe, Verständnis ohne Worte, Harmonie, Ruhe, Verschmelzen. Diese Gefühle werden als Prägung im Körper gespeichert.“
Sobald das Trauma bewusst erfahren worden ist, muss es nicht mehr wiederholt werden. Theoretisches Wissen darüber reicht nicht, die Verbindung zum Anderen und die Folgen müssen gespürt werden und Platz im Bewusstsein und im Körper bekommen. Dann kann der Abschied freiwillig vollzogen werden: „Verlassen statt verlassen werden“. Über das Verstehen wächst die Bereitschaft, dem Abschied zuzustimmen. Liebe und Schmerz haben nebeneinander Platz, die Liebe im Herzen bleibt. Was heilt ist die Art des inneren Kontaktes mit dem Zwilling. Der Zwillingsverlust bleibt ein lebenslanges Thema, aber die Auswirkungen und die Bedeutung verändern sich. Der Zwilling muss nicht mehr im Außen gesucht werden, sondern wird im eigenen Inneren gefunden. Erst dann eröffnet sich die Chance den Blick auf die hinter den Traumatisierungen verborgenen Ressourcen des überlebenden Zwillings zu werfen, und diese ins Leben zu integrieren.
Die größten Ressourcen sind eine außergewöhnliche Liebesfähigkeit und eine tiefe Verbindung zum Raum der Spiritualität.