Was bedeutet Integration in der „integrativen“ Atemarbeit?
Im „Handbuch der Atemtherapie“ habe ich die Bedeutung von „integrativ“ auf vier Ebenen beschrieben:
„Im bewussten Atmen geschieht das innige Sich-Aufeinander-Einlassen von Körper und Seele/Geist.
Im Geschehenlassen des Atems finden verstreute, disparate Teile des Innenlebens zueinander. Wie das Geistige mit dem Körperlichen zusammenwächst, kommen auch die im Lauf der Persönlichkeitsentwicklung voneinander abgetrennten Erlebensbereiche wieder zueinander in Verbindung.
Methodisch gesehen, geht es darum, für dieses Zusammenfinden und Zu-sich-selbst-Finden des therapeutischen Prozesses die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit dem Atem als Zentrum und anderen Erfahrungsmethoden als ergänzende zusätzliche Hilfskräfte. Wenn möglich und angebracht, soll also in der Integrativen Atemtherapie die Atemerfahrung in einen größeren Zusammenhang eingefügt werden, um einen ausgeweiteten und mehrdimensionalen Zugang zu den psychischen Problembereichen zu öffnen.
Die Integrative Atemtherapie nutzt das breite Methodenspektrum, das die verschiedenen Schulen der Atemarbeit hervorgebracht haben. In Bedachtnahme auf die Persönlichkeitsstrukturen, den inneren Entwicklungsstand und die körperliche Eignung der Klienten wird die Methode der Wahl gefunden und nach Maßgabe der Entwicklung des therapeutischen Prozesses variiert.“ (S. 96)
Ich möchte hier diese Ebenen näher erläutern.
Ad 1): Wenn wir bewusst atmen, spüren wir nicht nur unseren Körper über das Ein- und Ausströmen der Luft, sondern auch uns selbst im Vollziehen der Atembewegung. Wir sind also auf eine tiefere und dichtere Weise mit uns selbst verbunden, wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit beim Atmen sind als wenn unsere Sinne nach außen oder auf unser Denken gerichtet sind. Im Moment des bewussten Atmens sind wir eins mit uns selber, wir erleben uns als ein integrales Ganzes.
Ad 2): Wenn wir uns auf einen längeren Atemprozess einlassen, wie es z.B. bei einer verbundenen Atemsitzung geschieht, erleben wir mehr von uns selbst und kommen auf verschiedenen Ebenen mit Anteilen von uns in Kontakt. In Kontakt kommen heißt, dass etwas, was vorher getrennt war, wieder zusammenkommt. Wie ich noch ausführen möchte, sind solche Trennungen oder Abspaltungen auf der seelischen Ebene Folgen von traumatischen Erfahrungen. Die Wiederbegegnung mit früheren Erfahrungen, die im Unterbewusstsein aufbewahrt wurden, vergrößert und verbreitert unsere Ganzheit, unsere innere Zusammengehörigkeit. Weiße oder graue Flecken auf der inneren Landkarte werden wieder bunt.
Ad 3a): Der Atemprozess bei einer Atemsitzung ist immer auch eingebettet in den Kontext der therapeutischen Beziehung zwischen atmender und begleitender Person. Diese beiden Personen sind über die Atmung miteinander verbunden, aber auch über das kommunikative Feld, das sie miteinander erschaffen haben. Wir gehen davon aus, dass auch ein Austausch auf unbewusster Ebene stattfindet, was sich darin äußert, dass häufig berichtet wird, dass die Begleitperson Bedürfnisse der atmenden Person wahrnehmen kann, ohne dass ein verbaler Austausch stattfindet. Der Grund für diese intime Form der Kommunikation könnte darin liegen, dass durch das gemeinsame Atmen eine gemeinsame Schwingung zwischen den beiden Menschen erschaffen wird, ein Resonanzfeld, in dem Informationen hin und her fließen.
Ad 3b. Darüber hinaus enthält dieser Aspekt der Integration einen praktischen Teil der therapeutischen Arbeit: Während des Atemprozesses gibt es einen Raum, in dem andere hilfreiche und wirksame Methoden angewendet werden können. Zunächst ist hier der ganze Bereich von körperlichen Interventionen zu nennen, Berührungen, Druck anwenden, massageartige Lockerungen usw. Dazu kommen verbale Mitteilungen, die beruhigend oder bestärkend eingesetzt werden können. Geht die Klientin mit einem Thema in die Atemsitzung, so kann sie auch mit Sätzen unterstützt werden, die zur Auflösung des Themas beitragen. Wenn sie z.B. Angst vor einer Bewerbung hat, die bevorsteht, sagt die Begleiterin beispielsweise: „Du wirst es schaffen. Vertraue auf dich und deine Fähigkeiten.“ Oder: „Spüre beim Einatmen die Kraft, dein Leben zu bewältigen, und lass beim Ausatmen deine Angst los.“
Ad 3c. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Einfluss liegt in der Präsenz der Begleitperson. Jemand, der den sich entfaltenden inneren Erfahrungen mit einer bewertungsfreien und achtsamen Haltung folgt, ohne sich mit eigenen Absichten einzumischen, repräsentiert eine Person, die sich alle in der Kindheit gewünscht hätten. Mit dieser Haltung wird es möglich, emotionale Mängel aus der Kindheit vor allem auf der kommunikativen Ebene auszugleichen und den inneren Raum für neue Beziehungsmuster zu schaffen. Integration bedeutet hier, dass die Erfahrung eines neuen Beziehungsmodells die aus der Kindheit übernommenen Beziehungskonzepte überschreibt und in den Gesamtkomplex der Seele aufnimmt.
Ad 3d.: Zu diesem Punkt gehört schließlich auch alles, was an Methoden nach dem Ende des Atemprozesses eingesetzt wird. Hier geht es darum, andere Bereiche des Inneren mit den neuen Erfahrungen bekannt zu machen, sodass die tieferen Einblicke in das eigene Seelenleben mit schon vertrauten in Verbindung gebracht werden können. Zu diesen Bereichen gehört die mentale, die bildliche und die symbolische. Der Übertrag auf verschiedene Ebenen sorgt dafür, dass die neugewonnenen Erfahrungen dauerhaft ihre Wirkung entfalten können und alte, nicht mehr dienliche Muster in diesen Bereichen abschwächen oder außer Kraft setzen. Mehr Sinnesmodalitäten, die aktiv einbezogen werden, setzen mehr Anker in den verschiedenen Abteilungen unseres Gehirns und unserer Seele. Beispiele sind Zeichnen, Malen oder Tonskulpturen, gestaltende Verfahren, mit denen eine rechtshemisphärische Verarbeitung und Integration der Atemerfahrung möglich wird. Ebenso dient das Schreiben dem Integrationsprozess.
Ad 3e.: Es geht bei diesen integrativen Aktivierungen um die Herstellung von Zusammenhängen und Verbindungen, wo sich Bruchlinien durch die Seelenlandschaft ziehen. Traumatische Verletzungen bewirken Unterbrechungen, also Diskontinuitäten innerhalb der Psyche. Es gibt ein Vorher und ein Nachher, und dazwischen befindet sich eine Lücke. Das Vorher war noch gut, während das Nachher verdunkelt ist. Der Grund für die Verschlechterung ist verborgen, weil er wegen seiner Schmerz- und Angstintensität abgespalten werden musste. Alle Erfahrungen, die wegen ihrer Intensität verdrängt werden mussten und nicht integriert werden konnten, hinterließen weiße Flecken in der Lebensgeschichte. Der Erzählfluss, der normalerweise die Ereignisse verknüpft und daraus das sinnvolle Ganze einer durchgängigen Lebensgeschichte bildet, zerfällt in unzusammenhängende Teile. In Momenten der Heilung gelingt es, vorher ausgeschlossene Erfahrungen wieder einzugliedern, also in den Lebenszusammenhang zu integrieren. Es wird gewissermaßen nachträglich der Atemfluss, der die Kontinuität des Lebens garantiert und repräsentiert, der aber im Augenblick der Traumatisierung gestockt ist und unterbrochen wurde, wiederhergestellt.
Ad 4): Modalitäten der Atmung
Integratives Atem bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Modalitäten der Atmung der Klientin angepasst werden und nicht die Atmung der Klientin an eine vorgegebene Form des Atmens. Es gibt also zunächst gar kein richtiges oder falsches Atmen, sondern die Atmung der atmenden Person. Die Begleiterin spürt oder merkt vielleicht, dass die Atmung in dieser oder jener Weise eingeschränkt, zurückgehalten oder blockiert ist, sie greift aber nicht gleich dirigierend ein, sondern lässt der Erfahrenden Zeit, damit sie selbst wahrnehmen kann, wie ihre Atmung fließt oder stockt, und damit der Atem selbst in der atmenden Person seine Wirkung entfalten kann. Es ist also das Vertrauen auf die Kraft des Atems, das bei der integrativen Atemarbeit im Zentrum steht, und nicht die Vorstellungen, Erwartungen oder selbsterfahrenen Ideen einer idealen Atmung, die die Begleiterin mitbringt. Beim integrativen Atmen geht es um die selbsterfahrene Atmung, wie sie im Moment wirkt und wie sie sich verändert, wenn sie die Aufmerksamkeit der atmenden Person bekommt.
Das Vertrauen auf den Atem als solchen hat zur Folge, dass es keiner speziellen Kenntnisse über eine optimale Atmung bedarf, um die heilende Kraft des Atems zur Wirkung zu bringen. Methoden, z.B. Körperinterventionen, Massagegriffe oder um die Atmung zu ihrer gewünschten oder erwarteten Form zu bringen, sind zunächst überflüssig; die Idee ist vielmehr, dass sich die Atmung selbst ihrer besten Form annähert, wenn sie den Raum dafür bekommt. Dieser Raum wird von der Aufmerksamkeit der Atmerin auf ihren Atem und durch die präsente mitfühlende Begleitung eröffnet.
Bessere und schlechtere Atmung
Manchmal kommen Klienten mit der Frage, was denn die richtige oder optimale Atmung wäre. Eine integrative Sichtweise auf die Atmung beinhaltet, dass es die jeweils passende Atmung für die jeweilige Situation gibt, aber keine generell und für alle Zeiten gültige Form des Atmens. Unsere Atmung reagiert auf unseren aktuellen Zustand und das Niveau der Aktivität, auf dem wir uns gerade befinden. Sie passt sich permanent an die Bedürfnisse unseres Organismus und unserer Seele an.
Zugleich merken wir, dass diese Anpassung besser oder schlechter von Statten geht. Oft ist unsere Atmung zu flach und zu schnell für die aktuelle Situation, als Folge von erworbenen Atemgewohnheiten. Die Atmung versorgt uns soweit, dass unser Überleben gewährleistet ist, also mit einem Minimum, damit wir unsere Aktivitäten schaffen. aber nicht zur Förderung der nachhaltigen Gesundheit.
Die Atemtherapie im engeren Sinn beginnt dort, wo die Blockierungen und Einschränkungen der Atmung bewusst werden und die Begleitperson aus ihrem weiter entwickelten Wissen und aus ihren eigenen Erfahrungen über die Möglichkeiten der Atmung Unterstützung bieten kann, um die Hindernisse zu lösen, die einem tieferen, volleren und langsameren Atmen im Weg stehen.
Denn flaches und schnelles Atmen ist ein immer Stressatmen, das sich bei vielen Menschen im Lauf der Jahre, oft schon beginnend in der Kindheit, chronifiziert hat. Sie leiden die ganze Zeit unter Stress, obwohl sie es kaum mehr merken, weil er zur Gewohnheit geworden ist. Der Organismus befindet sich in diesen Fällen fortlaufend im Überlebensmodus, und dieser Modus zehrt an den Energiereserven des Körpers und der Psyche, ohne zur Regeneration und Wiederauffüllung der Energiedepots etwas beizutragen. Flache und schnelle Atmung ist ein Hinweis darauf, dass die Person Raubbau an ihren Ressourcen ausübt, der sich früher oder später in gesundheitlichen oder emotionalen Problemen äußern wird. Das ungenützte Potenzial in Bezug auf die Tiefe und Verlangsamung der Atmung führt zur Trägheit und Starrheit der Atemmuskulatur. Dazu kommt, dass Schockerfahrungen oder emotionale Verletzungen z.B. durch eine Demütigung oder Beschämung zu einer Reduktion der Atemtiefe und damit auch zu einer Beschleunigung führen, die Atmung zusätzlich hemmen und in ihrer Beweglichkeit einschränken. Es genügt schon, wenn jemand als Kind erlebt hat, dass seine Lebendigkeit von den Eltern nicht erwünscht war; um sich dieser Einschränkung anzupassen, besteht die einfache Möglichkeit, das Atemvolumen zu verkleinern, und schon steht weniger Lebensenergie zur Verfügung. Erst recht wirken sich traumatische Erfahrungen, die oft mit Atemunterbrechungen einhergehen, verschlechternd auf die Atmung aus. Viele Menschen nehmen also aus ihrer Kindheit defizitäre Atemmuster mit, die sich chronifiziert haben und über kurz oder lang in verschiedenen Gesundheitsproblemen äußern.
Die Lockerung und Flexibilisierung der Atemmuskulatur, vor allem des Zwerchfells und der Zwischenrippenmuskeln, die in der Atemtherapie erreicht werden kann, führt dazu, dass die Atmung zu der Form finden kann, die ihren Möglichkeiten am besten entspricht. Das ist die Form der Atmung, mit der wir die eigene Gesundheit und Regenerationsfähigkeit am besten stärken können. Oft haben die Klienten die Schwierigkeit, langsam und gleichmäßig einzuatmen oder entspannt auszuatmen. Beides wird möglich, wenn die Atemmuskeln geschmeidiger werden. Damit kommt das parasympathische Nervensystem mehr zur Wirkung und trägt seinerseits dazu bei, die Atmung zu entschleunigen und zu entspannen. Es ist wie bei Yoga-Asanas, dass mit fortgesetztem Üben die entsprechenden Muskeln wachsen und geschmeidiger werden, sodass die Gelenkigkeit und Beweglichkeit gesteigert wird. Dazu kommt noch die Aktivierung und Belebung der Faszien der Atemmuskeln, wodurch sie weicher werden und sich Verklebungen lösen.
Regelmäßig praktizierte Atemübungen und längere Atemsitzungen tragen dazu bei, dass die Atemmuskeln und die beteiligten Fasziengewebe aktiviert und trainiert werden, mehr Durchblutung bekommen und mehr leisten können, sowohl in Hinsicht auf die Atemtiefe als auch in der Regulierung der Atemgeschwindigkeit von ganz langsam bis schnell. Muskeln und Gewebe, die in ihren verschiedenen Möglichkeiten genutzt werden, werden leistungsfähiger und flexibler. Wir integrieren auf diese Weise die Vielfalt und Variabilität, die in unserer Atmung angelegt ist.
Mit einer gut dehnbaren Atemmuskulatur können die verschiedensten Atemübungen ohne Anstrengung praktiziert werden, die es in großer Zahl gibt und die alle über spezifische Vorzüge verfügen. Manche von ihnen werden nach der indischen oder chinesischen Tradition beschrieben, etwa in Hinblick auf ihre Wirkungen auf die Chakren oder die Meridiane. Viele von ihnen führen zu naturwissenschaftlich messbare Verbesserungen z.B. im Blutkreislauf, bei der Stressentlastung oder bei der Schlafqualität.
Integration mit dem Selbst
Wir haben hier die Integration von Physiologie und Gesundheit beschrieben. Wir verfügen mit der Atmung, die wir bewusst beeinflussen, steuern und trainieren können, über einen Regulationsvorgang, den wir immer wieder nutzen können, um mit unser selbst in Einklang zu kommen, eine wichtige Voraussetzung für die nachhaltige Gesundheit unseres Organismus. Wenn wir gegen unseren Körper handeln, also Aktionen setzen, die ihm schaden, geraten wir in einem Konflikt mit uns selber. Wir sind von uns selbst entzweit, desintegriert, abgespalten. Dann fühlen wir uns nicht nur nicht wohl, sondern belasten auch unsere physische Gesundheit.
Mit dem bewussten Atmen integrieren wir uns selbst, kommen also zu der inneren Einheit und oft zu einem tiefen Verbundensein mit uns selbst. Die intakte Selbstbeziehung ist die Basis für unser seelisches Wohlbefinden und unser organisches Gedeihen. Es herrscht Friede in uns, und in Friedenszeiten können sich alle Kräfte am besten entwickeln. Auf der physiologischen Ebene zeigt sich dieser Integrationszustand in einem hohen Maß an Kohärenz, also an gleichförmigen Rhythmen oder Schwingungen in verschiedenen Regulationssystemen im Körper – Atmung, Herzschlag, Blutkreislauf, vegetatives Nervensystem.
Die Selbstverbindung, die über das Atmen geschaffen wird, besteht unabhängig davon, ob sie uns in dem Moment bewusst ist oder nicht. Denn selbst im Schlaf vollzieht sich diese Einstimmung. Dann aber, wenn wir bewusst atmen, Ist in diesen Zusammenklang auch unser Bewusstsein mit einbezogen und wir leben aus unserer Ganzheit.
Atmen und Integration der Umwelt
Mit jedem Atemzug nehmen wir Luft auf und geben unsere Ausatmung an die Luft ab. Wir befinden uns in einem beständigen Austausch mit dem Medium, das uns permanent umgibt und unser Lebenselixier darstellt. Durch die Atmung sind wir in jedem Moment mit unserer Umgebung in Verbindung. In einem ununterbrochenen Fließen geben und nehmen wir in Form der Einatem- und der Ausatemluft. Die Luft ist unser primäres Außen, das wir durch das Einatmen zum Inneren machen und durch das Ausatmen veräußern. Sie gibt uns unsere ersten und wichtigsten Informationen über das Außen: Die Temperatur, die Qualität, die Gerüche und andere atmosphärische Botschaften, die einen unmittelbaren Einfluss auf unser Erleben ausüben.