Unter einem psychischen Trauma versteht man eine seelische Verletzung oder eine starke Erschütterung, die durch ein extrem belastendes Ereignis hervorgerufen wird und nicht verarbeitet werden kann. „Ein Trauma ist der abgebrochene Atem“, schreibt Anna Walker. Mit dem Atem wird abrupt der Fluss des Lebens unterbrochen.
In der Traumatherapie hat der Begriff der Integration einen wichtigen Stellenwert – ein integriertes Trauma gilt als geheilt. Was beim Trauma auseinandergefallen war, hat nun wieder zu einer Einheit gefunden.
Die Atemtherapie ist als Methode nicht auf die Traumaheilung spezialisiert. Es gibt mittlerweile viele therapeutische Methoden und Verfahren, die sich explizit mit Traumen und ihrer Heilung beschäftigen. In einem Atemprozess können Traumaerinnerungen auftauchen, als Bilder, Gedanken oder Körperreaktionen. Manchmal wird der biografische Zusammenhang klar, also was wann passiert ist; manchmal aber auch nicht. Z.B. zeigt der Körper eine starke Abwehrbewegung während des Atemprozesses, ohne dass die Person weiß, gegen wen sie sich zur Wehr setzt. In diesen Fällen ist es wichtig, dass ein Gespräch nach dem Atmen stattfindet, in dem nachgespürt werden kann, was die Ursprünge der Abwehrreaktion in der Vergangenheit sein könnten.
Die Traumaelemente, die im Atemprozess auftreten, finden in der Regel auch zu einer Form der Integration, indem die traumatisierende Erfahrung bewusst erfahren werden kann, die dazu gehörenden Gefühle gespürt und durchlebt werden und wenn es am Ende zu einem tief entspannten Zustand kommt. Um aber schwere Traumaerfahrungen tiefgreifend auflösen zu können, ist es auch in diesen Fällen ratsam, Traumatherapeuten aufzusuchen und nachzuprüfen, ob die Integration, die in der Atemerfahrung erlebt wurde, auch nachhaltig und dauerhaft ist.
Kennzeichen der Traumintegration
Zur Integration in der Traumatherapie gehört, dass die innere Aufspaltung und Fragmentierung, die durch ein Trauma geschieht, überwunden und die Einheit von Körper und Psyche wiederhergestellt wird. Dazu gehört, dass die belastenden Geschehnisse in der eigenen Lebensgeschichte ihren Platz finden und das ganze Leben einen durchgängigen Erzählstrang aufweist, ohne Lücken und blinde Flecken. Auch schlimme Ereignisse können ohne starke Emotionen erzählt werden. Sowohl im Moment, in der Selbstbeziehung (vertikal) wie auch in der biographischen Perspektive, mit der eigenen Lebensgeschichte (horizontal) besteht eine Einheit.
Damit die Spaltungen und Dissoziationen aus der Traumaerfahrung rückgängig gemacht werden können, muss die Selbstregulation des vegetativen Nervensystems gut funktionieren. Der Sympathikus wird aktiv, wenn Leistung und Anstrengung gefordert sind, und der Parasympathikus, wenn es um Entspannung Regeneration geht. Traumatische Erlebnisse sind dagegen durch eine Zerrüttung auf der neuronalen Ebene gekennzeichnet, die sich in Erstarrungsreaktionen (parasympathische Überreaktion) und in übermäßigem und dauerhaftem Stress (sympathische Überreaktion) ausdrückt.
Kinder lernen im Lauf ihres Aufwachsens, ihre Emotionen und damit ihr Nervensystem zu regulieren, sodass sie ihren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern gegensteuern können, wenn sie einmal zu heftig reagieren. Diese Fähigkeit in der Affektregulation wird durch Traumen gestört und geschwächt. Erst, wenn sie wiederhergestellt ist, kann sich die betreffende Person ausreichend entspannen und damit ihre Ressourcen bestmöglich nutzen. Anstelle der Daueranspannung und ängstlichen Wachsamkeit im Traumazustand tritt ein Leben mit einem gesunden Auf und Ab von hoher und niedriger Erregung. Es wird möglich, ausgeglichene und liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Integrierte Traumen zeigen sich auch darin, dass die eigenen Bedürfnisse gespürt werden können, ohne eine sofortige Befriedigung zu benötigen. Die Erinnerungen an die schlimmen Ereignisse sind ohne starke emotionale Erregungen möglich.
An der Atmung zeigt sich in jedem Moment, ob ein Traumazustand besteht. Dann wird sie hektisch und seicht oder stockt abrupt. Die Atmung bietet zugleich die beste Möglichkeit, das vegetative Nervensystem zu regulieren, durch aktives Einatmen und entspanntes Ausatmen. Praktische Übungen z.B. des kohärenten Atmens führen nachweislich zur Verbesserung der Selbstregulation des Nervensystems und reduzieren die Stressbelastung. Damit findet das Nervensystem zunehmend einen ausgeglichenen Zustand, der die Integration des Traumas auf dieser Ebene anzeigt.
Technische Elemente der Traumaheilung
Ein Grundelement bei vielen Methoden der Traumatherapie besteht darin, dass sich die erforschende Person nicht gleich mit der vollen emotionalen Ladung der Traumasituation auseinandersetzt, sondern sich schrittweise annähert, immer wieder auf Ressourcen zurückgreift und damit die Wucht des Traumas in kleinere Einheiten aufteilt, mit denen es leichter fällt sich zu konfrontieren. Auf diese Weise wird die Überladung des Nervensystems, die beim Erleben des Traumas aufgebaut wurde, langsam verringert.
In der Atemarbeit stellt der Atem die Hauptressource dar, die immer zur Verfügung steht und auf die die Begleitperson immer wieder aufmerksam machen kann, verbal („Spüre, dass dein Atem weiter fließt, während du diese starken Gefühle erlebst.“) oder indem sie einfach nur mitatmet. Dadurch schwankt die Aufmerksamkeit der erforschenden Person zwischen den Traumaladungen und der Kraftquelle des Atems hin und her. Der Prozess bewegt sich auf diese Weise immer näher an die Integration heran.
Der Atem bildet immer ein Anker, der mit dem Hier und Jetzt verbindet und dabei hilft, die aktuelle Erfahrung von der in der Vergangenheit zu unterscheiden. Diese Unterscheidung im Inneren zu verankern, ist ein weiteres wichtiges Element der Traumatherapie: Damals, in der Traumasituation, war Unsicherheit, jetzt herrscht Sicherheit. Mit dieser Einsicht beruhigen die bewussten kognitiven Anteile im Frontalhirn das Traumagedächtnis im limbischen System.
Wie schon gesagt, dient der Atem auch dazu, die Fähigkeiten in der affektiven Selbstregulation zu stärken. Sie besteht darin, Gefühle spüren und halten zu können, also einen freien Zugang zum inneren Erleben zu haben und zugleich entscheiden zu können, die Gefühle auszudrücken oder im Inneren zu halten. In der sicheren Situation einer Atemsitzung mit einer Begleitperson wird die im Trauma gebundene emotionale Energie frei für den Ausdruck und damit reduziert und abgebaut. Gefühlsenergien, die in der Traumasituation nicht ausgelebt werden konnten, dürfen sich jetzt austoben und dann beruhigen. Oft führt eine Traumaerfahrung zur Erstarrung, zur Lähmung aller Gefühlsimpulse und zum Abschneiden von den eigenen Gefühlen. Die Verstärkung der Atmung bei einer Atemsitzung kann dann dazu führen, die Gefühlsabwehr, mit der der Organismus während des Traumas vor den schmerzhaften Emotionen schützen wollte, zu lockern, sodass die verdrängten Gefühle freien Lauf bekommen. Die Begleitperson sollte dabei ihr Augenmerk darauf richten, dass die Gefühle nicht übermächtig zum Ausdruck kommen und die Atmerin überfordern. Die Begleiterin achtet darauf, dass sich die Klientin nicht zur Gänze mit dem Gefühl identifiziert, indem sie immer wieder auf den Atem aufmerksam macht. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen Person und Gefühl und zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Diese Unterscheidungen sind Elemente, die zur Integration der vergangenen Traumaerfahrung beitragen.
Die Therapiesitzungen bringen oft Fortschritte, die im Alltag dann wieder von alten Erfahrungen überlagert und abgeschwächt werden. In der Atemtherapie haben wir eine wichtige und naheliegende Empfehlung zur Verfügung, mit der die neuen Erfahrungen gefestigt werden können: Die Empfehlung, die Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atem zu lenken und dadurch die Bewusstheit in den Moment zu bringen. Mit jedem Akt der Besinnung auf den momentanen Atem wird die Unterscheidung von Jetzt und Damals gefestigt und die Traumalast weiter abgeschwächt.
Ausreichende Integrationszeit
Nach einer längeren Atemsitzung braucht die atmende Person Zeit, um wieder ins Normalbewusstsein zurückzukommen. Es ist angeraten, dass die Begleitperson das Ende des Atemprozesses ankündigt, z.B. zehn oder fünf Minuten vorher. So kann sich auch das Unbewusste der Klientin auf den Abschluss der Sitzung vorbereiten. Anschließend sollte noch Zeit für verbale Mitteilungen und für ein Feedback von der Begleitperson vorgesehen sein.
Damit die Erfahrungen gut integriert werden können, ist eine ausreichende Zeit erforderlich, bis die Klientin wieder in ihr Tagesgeschäft einsteigen kann. Was „ausreichend“ bedeutet, hängt von vielen Faktoren ab: Die Intensität des Atemprozesses, also die Tiefe der erlebten Gefühle, die Länge der Entspannungszeit gegen Ende der Sitzung, die Persönlichkeit der Klientin, um die wichtigsten Faktoren zu benennen. Insbesondere nach gefühlsintensiven Prozessen sollte sich die Klientin nach der Sitzung und nach dem Verlassen des Therapieraums noch genug Zeit für sich selber nehmen. Diese Empfehlung sollte in solchen Fällen von der Therapeutin mitgegeben werden, verbunden auch mit der Frage, ob es jemanden in der sozialen Umgebung gibt, um eventuell auftauchende Themen zu besprechen und Unterstützung zu bekommen. Falls zusätzlich der Eindruck besteht, dass sich die Klientin in einem labilen Zustand befindet, aber die Sitzungszeit aus praktischen Gründen nicht verlängert werden kann, besteht auch die Möglichkeit, der Klientin anzubieten, dass sie sich telefonisch oder anderswie melden kann, wenn sie Probleme mit der Integration erlebt. Dieses Angebot vermittelt die Sicherheit, nicht allein gelassen zu werden und auf eine kompetente Unterstützung im Notfall zurückgreifen zu können; es sollte allerdings nicht dazu führen, dass die Klientin den Eindruck hat, jetzt wenig jeder Kleinigkeit bei der Therapeutin anrufen zu können.
Der Atem als ständiger Begleiter, Tag und Nacht, jahrein, jahraus, bietet uns die Möglichkeit an, mit uns selbst in Kontakt zu kommen und zu bleiben, indem wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken. Das ist der wichtigste Hinweis, den die Begleitperson ihrer Klientin mitgeben kann. Sie kann dieses Angebot, das ihr von ihrem Atem gegeben wird, immer nutzen, wenn sie das Gefühl hat, sich zu verlieren oder von Gefühlen überwältigt zu werden. Der Atem führt sie zu ihrer Kraft und zu ihrer Entspannung zurück, sobald sie sich Zeit für ihn nimmt.
Wilfried Ehrmann